Zwei Brüder, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: ein erfolgreicher Geschäftsmann, der am Anfang einer internationalen Karriere steht, und ein nutzloser, von seinen Eltern misshandelter Teenager. Ein Schicksallsschlag zerbricht die bisherige Normalität ihrer Leben. Während einer von ihnen alle Hoffnung aufgibt, muss der andere für das kämpfen, was seine Familie über Jahrhunderte hinweg aufgebaut hat … So lautet der Klappentext von Clarissa Bühlers Werk Wechselbalg, welches ich vor kurzem rezensieren durfte.
Bei Wechselbalg handelt es sich um ein Buch, das ich in dieser Art noch nie gelesen habe, das mir interessante Charaktere und eine spannende, wenn auch ungewöhnliche, Story geliefert hat. Das Buch beschäftigt sich mit Themen wie Familie, Glaube, Tod und Neubeginn. Ich habe die Selfpublisherin um ein Interview gebeten und dabei spannende Antworten zu ihrem Werk bekommen – viel Spaß beim Lesen.

Liebe Clarissa, ich freu mich, dass du Lust hattest auf ein Interview. In deinem Buch müssen zwei Brüder einen tragischen Verlust bewältigen und gegen Erwartungen von außen ankämpfen, während sie versuchen, nicht in dem Geschehen zu versinken. Mich hat das Buch nachdenklich zurückgelassen. Wie ist dir die Idee zu dieser Handlung gekommen?
Das wird vermutlich sehr absurd klingen, aber: Ich weiß es schon gar nicht mehr. Die Geschichte war nichts, was ich mir bewusst ausgedacht hätte, und es gab keinen bestimmten Moment, in dem ich auf einmal die ganze Handlung vor mir gesehen hätte. Die Charaktere haben sich einfach meinem Leben hinzugesellt und waren auf einmal einfach „da“. Ich weiß noch, wie ich die Personen zuerst kannte und sich die Geschichte dann erst später entwickelt hatte. Ich kann das vielleicht so beschreiben, dass ich die Personen über viele Jahre kennenlernen durfte und sie mir einen Einblick in ihre Leben gewährt haben. Die Geschichte ist dann daraus gewachsen. Und ich muss zugeben, dass sie da auch ein Wörtchen mitzureden hatten 😀 Ich hatte an manchen Stellen etwas ganz Anderes geplant, aber als ich es dann aufgeschrieben habe, merkte ich, dass es gar nicht zu ihnen passte und sie sich niemals so verhalten würden. Deshalb musste ich meine Planung immer mal wieder ändern, um ihnen gerecht zu werden.
Die Geschichte hat sich also langsam entwickelt und ist so zu dem geworden, was sie heute ist. Wie bist du denn überhaupt zum Schreiben gekommen?
Meine erste Geschichte habe ich im Alter von etwa zwölf Jahren verfasst. Ich weiß gar nicht mehr, wieso, aber eines Nachmittags habe ich mich zu Hause einfach hingesetzt und sie zu Papier gebracht. Von da an hat mich das Schreiben nicht mehr losgelassen.
Geschichten haben mein Leben aber schon immer begleitet. Als kleines Kind, noch bevor ich in die Schule kam, habe ich mir immer Stories ausgedacht. Weil ich damals noch nicht schreiben konnte, habe ich sie meiner Tante diktiert.
Welche Themen waren dir beim Schreiben besonders wichtig? Das Buch behandelt ja viele spannende und auch harte Themen, wie Depressionen, Selbstmord, aber auch Glaube, Erwartungen und Familie und Freundschaft.
Ich muss zugeben, dass ich nicht nüchtern an das Buch herangegangen bin und mir vornahm, über dieses und jenes Thema zu schreiben. Ich wollte einfach zu Papier bringen, was ich fühlte, was ich als Story in mir sah, so wie in einem inneren Film. Zurückblickend denke ich, dass ich wohl aufzeigen wollte, wie verschiedene Menschen mit Schmerz umgehen und mit Bedingungen, die sie an ihre Grenzen bringen – wie man sein Leben weiterführen kann, auch wenn man glaubt, innerlich gestorben zu sein.
Wie konzipierst du deine Figuren, was ist dir bei ihnen wichtig?
Ehrlich gesagt: Ich konzipiere sie nicht. Ich sitze nicht an meinem Schreibtisch und entwerfe Figuren wie am Reißbrett, je nachdem, wie ich sie für meine Geschichte brauche. Wenn ich sie mir so „ausdenken“ müsste, wäre das für mich viel zu klinisch und ich könnte über sie nicht schreiben, weil ich dann kein Interesse an ihnen hätte.
Der kreative Prozess läuft für mich ganz anders ab. Aus dem Blauen heraus sehe ich die Personen plötzlich vor mir, in einem Moment, in einer bestimmten Situation meines Lebens, so als würde ich jemand Neues kennenlernen. Ich fühle sie, ich empfinde sie. Und dann beginne ich, Szenen zu sehen, in denen sie agieren – andere Personen zu sehen, mit denen sie interagieren – und daraus entsteht die Geschichte. Oft sehe ich eine ganz bestimmte Szene vor mir (nur eine einzige!) und dann muss ich ein ganzes Buch schreiben, um die zu erklären und darauf hinzuarbeiten 😀 lol
Mir ist wichtig, dass die Personen für mich lebendig sind. Ich muss ihre ganz eigene Individualität erfassen. Sie müssen Macken haben und Wünsche, Sehnsüchte, Träume, nervige kleine Angewohnheiten, Eigenheiten, Vorlieben … und viele kleine Geheimnisse, von denen nur ich weiß.
Kannst du uns deine Hauptcharaktere kurz vorstellen?
Die Geschichte wird aus der Sicht von Joe erzählt, einem sechzehnjährigen Jugendlichen. Er ist recht unkonventionell und eigentlich recht flockig und lebenslustig. Er stammt aus einer sehr reichen Familie, hat aber keine guten Lebensverhältnisse, denn seine Eltern misshandeln ihn.
Sein älterer Bruder Mo ist das genaue Gegenteil. Er ist ehrgeizig und trotz seines jungen Alters (23) geschäftlich schon sehr erfolgreich. Er wird einmal den Familienbetrieb von seinem Vater übernehmen. Er ist ernst, schweigsam und wirkt nach außen hin sehr kalt.
Vollkommen ohne Verbindung zu den beiden ist Marie, eine junge Christin vom Lande, die in eine Großstadt gezogen ist, um zu studieren. Sie ist ebenfalls 23, aber schüchtern, unsicher und ängstlich. Nach ihrem Studium der Sozialen Arbeit möchte sie sich einem Orden anschließen und Nonne werden.
Also ein Blick auf das Leben dieser drei Menschen. Wie würdest du dein Buch Wechselbalg mit drei Wörtern beschreiben?
Das ist für mich die schwierigste Frage 😛 Als Autorin hole ich doch so gerne aus mit meinen Sätzen und beschreibe Szenen seitenlang, und nun auf einmal nur drei Wörter verwenden zu dürfen, finde ich ganz schön schwer! 😀
Düster, Aufopferung, Schmerz.
(lacht) Das tut mir leid, dass du dich da kurzfassen musst 😉 Die Begriffe passen aber sehr gut, finde ich!
Wechselbalg bringt drei Personen auf unerwartete Weise zusammen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: ein auf Erfolg getrimmter junger Erbe, ein von seinen Eltern zumindest seelisch misshandelter Teenager und eine junge Frau, die in einer scheinbar gestrigen Welt aufgewachsen ist und versucht, Halt in der modernen Welt zu finden und sich Zukunftsperspektiven zu erarbeiten. Wieso hast du diese drei Charaktere gewählt und was verbindet die drei deiner Meinung nach miteinander?
Ich denke, wie mit allen Charakteren, die ich „erschaffen“ habe, verkörpern sie alle einen Teil von mir. Zwar ins Extreme getrieben und in verschiedene Facetten abgespaltet, aber auf eine gewisse Weise sind sie mir doch alle ähnlich. Sie alle entsprangen einem bestimmten Teil meiner Seele, den ich nach außen gestellt habe, um ihn vor mir zu sehen.
Das Spannende an ihnen finde ich gerade, dass sie nichts miteinander verbindet. Mo und Joe sind so grundverschieden, dass die beiden niemals miteinander in Kontakt wären, wenn sie nicht zufälligerweise in die gleiche Familie geboren worden wären. Und Marie wiederum ist Welten von ihnen entfernt.
Mich fasziniert, wie man so unterschiedlich sein kann und einen das Leben trotzdem zusammenführt – und wie man eine starke innere Verbundenheit entwickeln kann, auch wenn man scheinbar gar keine Gemeinsamkeiten hat.
Das Gefühl hatte ich beim Lesen auch – gerade die beiden Brüder sind so grundverschieden, dass ich mich oft gefragt habe, ob sich ihre Wege ohne ihr Verwandtschaftsverhältnis überhaupt kreuzen würden.
Wie sieht für dich der Weg von der Idee zum fertigen Buch aus?
Für mich ist das ein sehr mühsamer, langwieriger und arbeitsintensiver Prozess. An „Wechselbalg“ habe ich schon geschrieben, seit ich Anfang zwanzig war. Es ist nicht so wie im Film, dass man sich als Schriftstellerin einfach hinsetzt und dann „flutscht“ das nur so, ganz im Gegenteil. Man muss viele Szenen umschreiben, muss die Story ggf. ändern, muss sich immer wieder selbst hinterfragen und an den Formulierungen feilen. Korrekturen und Überarbeitungen machen einen großen Teil des Schreibprozesses aus.
Für mich besteht die Idee zu einem Buch meist aus verschiedenen einzelnen Szenen, die ich vor mir sehe und die ich gerne in Worte fassen möchte. Die Kunst besteht dann darin, diese zu verbinden und für die Leser die Vorgeschichte zu erklären. Ich muss alles, was in meinem Kopf so klar ist, so beschreiben, dass auch andere das Gleiche empfinden und fühlen können. Dazu gehört sehr, sehr viel – und vor allem ein langer Atem. Aber es ist für mich das Schönste der Welt, und ich möchte es niemals missen.
Wäre mein Leben ein Buch, wäre sein Titel…
Schmetterlingskind.
Gibt es noch etwas, das du gerne ansprechen möchtest?
Ich würde gerne in die Vergangenheit zurückreisen und dem kleinen Mädchen, das ich einmal war und das so viele Wünsche und Träume hatte bzgl. des Schreibens, sagen, dass ihr Weg zwar nicht so verlaufen wird, wie sie sich das damals vorstellte – aber dass sie trotzdem den Glauben an sich nie aufgeben sollte und ihrem Weg treu bleiben soll.
Danke für das tolle Interview und den spannenden Einblick in dein Buch und das Schreiben!
Außerdem habe ich Clarissa Bühler noch einige Fragen zum Thema Selfpublishing gestellt – die kommen in einem weiteren Mini-Interview demnächst online 😉